.Leseprobe: Verlorenes Paradies
„Auf uns und unsere Freiheit! Hoch!“
Im ersten Buch seiner Jugend-Saga “Russisches Kreuz” blickt Alexander Lapin auf die 70er Jahre in der damaligen Sowjetunion zurück. Die vier jungen Helden des Buchs, die dann später ganz verschiedene Lebenswege einschlagen werden, sprechen über ihre Zukunft.
„Wir beenden die Schule“, sagt Tolik Kasakow, sich die Mütze auf der Stirn zurechtrückend, „und für viele beginnt das graue, langweilige Leben. Geht auf keine weiterführende Schule. Geht pflügen.“ Er sagt dies in einem beiläufigen Ton, der die anderen sicher sein lässt, dass er selbst zu hundert Prozent davon überzeugt ist. Und ihn selbst erwartet ein interessantes und buntes Studentenleben.
„Lass gut sein, Tolik“, antwortet ihm Dubrawin, der mit einer Hand ein breites Holzscheit nimmt, das er ins Feuer wirft. „Warum denn so pessimistisch?“
Er senkt den Kopf und hebt ein geschliffenes Trinkglas mit selbst gemachtem Kräuterschnaps hoch. „Auf uns und unsere Freiheit! Hoch!“
Alle stoßen miteinander leise an, damit es im Lager nicht zu hören ist und würgen ein gedrücktes „Hoch!“
Dubrawin fährt fort: „Die Hauptsache ist, die Schule zu beenden und einen Abschluss zu haben. Aber ob ich arbeiten gehe oder weiter lerne… ist das wirklich so wichtig…?“
Er macht sich und den anderen etwas vor. Jeder begreift: Sein Schicksal hängt davon ab, ob er an einer weiterführenden Schule angenommen wird oder nicht. Und das Selbstwertgefühl und die Hochachtung der anderen.
Dubrawin will nur im Voraus allen, die es nicht gleich schaffen, frühzeitig eine Entschuldigung anbieten.
‚Aber, was ist wichtig?‘ fragt er sich selbst. Und antwortet auch gleich: ‚Entscheidend ist, ob man nach den eigenen Überzeugungen lebt, nach etwas strebt, oder ob man mit dem Strom schwimmt‘. Und er ergänzt: ‚Man will so gerne den eigenen Weg gehen, damit alle wissen, was du für einer bist. Und die Welt mit den eigenen Augen sehen.‘
Er macht eine Pause, versucht seine Anspannung und Faszination zu verbergen, schaut direkt ins Feuer, sodass sich die Flammen in seinen tief liegenden, dunklen Augen widerspiegeln.
„Und dafür gehst du zur Militärschule? Was siehst du dort? Die Kaserne. – Die Naturwissenschaften! Dort spielt sich jetzt alles ab. Physik, Chemie, Mathematik“, erklärt Kasakow.
Das Gespräch verstummt kurz. Jeder geht den eigenen Gedanken nach. In diesen Tagen versichert jeder jedem, dass er seinen Weg schon gefunden hat. Aber ganz tief in jedem steckt die Furcht vor dem
vor ihm liegenden, unbekannten Leben. Und sie suchen instinktiv Unterstützung.„Ach, einfach auf alles pfeifen“, kommentiert, für die anderen aus heiterem Himmel, aber vollkommen verständlich für ihn selbst, Amantai Turekolow. „Wissenschaft, Physik, Chemie… Ich gehe zu meinem Onkel nach Alma-Ata. Er hat versprochen, mich an einer Hochschule unterzubringen. Onkel Marat ist der Cousin von meinem Vater; er ist ein bedeutender Mensch in der Hauptstadt.“
Allen ist nach seinen Worten etwas unwohl. Andrei Frank versucht, die peinliche Stimmung aufzulockern. Er hängt einen Eimer mit Krebsen an den Haken über dem Lagerfeuer und wirft eine Prise Salz
und einige Lorbeerblätter hinein: „Ich weiß nicht, was wird. Früher wurde den Deutschen nicht erlaubt zu studieren. Meine Eltern haben Angst. Vielleicht gehe ich irgendwohin als Fotograf arbeiten. In der Regionalzeitung wurden fünf von meinen Fotos gedruckt.“Er wollte der Situation die Peinlichkeit nehmen, die Stimmung auflockern und hat alles nur noch schlimmer gemacht. Bislang hat sich noch keiner von ihnen große Gedanken darüber gemacht, wer
Deutscher, Kasache oder Russe ist. Und hier wurde nun ausgesprochen, was sich davon ableiten ließe…‚Na ja…‘, denkt Schurka. ‚Wie viele Jahre haben wir zusammen verbracht…‘
Die Mädchen lassen sich von diesem Gespräch nicht anstecken.
Sie haben ihre eigenen Träume. Ludmila will Juristin werden. Allerdings weiß sie, dass ihre Mutter die Hochschule in der großen Stadt nicht bezahlen kann. Das bedeutet, sie muss sich etwas Einfacheres aussuchen. Vielleicht auf das Technikum gehen.Bei Galina ist alles ganz anders. Sie hat eine große Auswahl. Aber sie hat das Gefühl, in ihr lebe eine Künstlerin. Doch das ist nicht einmal das Wichtigste. Irgendwann in der fernen Zukunft trifft sie einen Menschen… Vielleicht keinen Prinzen auf einem weißen Pferd, aber immerhin so einen, mit dem man es ein ganzes Leben lang aushalten kann…‘
„Ach, ob es sein wird, nicht sein wird – was sein wird, man wird es vergessen“, grübelt Kasakow, mit einem Stock in den Krebsen rührend.
„Die Zeit ist langweilig, als sei sie stehen geblieben. Mit einem Wort, entwickelter Sozialismus“, seufzt er und setzt sich am Feuer in die Hocke.
Schurka antwortet, nur aus dem Wunsch heraus zu widersprechen:
„Hör auf, dich über die Zeit zu beschweren. Die Zeit selbst lebt ja nicht.
Der Kosmos. Die Bombe. Wohin man auch sieht, überall Revolution.
Wir langweilen uns, weil wir noch nicht aktiv sind. Sobald wir uns auf unseren Weg begeben, ist es anders!“